Bericht zur Ringvorlesung "Entwicklungstheorien reloaded?"
Universität Hamburg, Sommersemester 2014, http://www.sid-hamburg.de/ringvorlesung
am 1. April 2014
von Dipl.-Pol. Christian Egbering
Die Ringvorlesung von SID-Hamburg geht in die zweite Runde. In der ersten Sitzung konstatierte Prof. Dr. Cord Jakobeit: „Es besteht eine Kontinuität modernisierungs- und wachstumstheoretischer Entwicklungstheorien, nur die Schwerpunkte werden jeweils anders gesetzt.“
Unter dem Titel „Entwicklungstheorie RELOADED?“ ging am vergangenen Dienstag (01.04.2014) die Ringvorlesung des Hamburg-Chapters der Society for International Development (SID) in die zweite Runde. Wie schon in der ersten Auflage der Veranstaltung hat man sich zum Ziel gesetzt, entwicklungspolitische Themen einem breiteren Publikum näher zu bringen und Einblicke in die akademischen Debatten und Praxisdiskurse zu gewähren. Nachdem im vergangenen Jahr die Parteien die Chance erhalten haben, ihre entwicklungspolitischen Positionen zu präsentieren und zur Diskussion zu stellen, sollen in der diesjährigen Ringvorlesung Einblicke in aktuelle akademische Diskussionen zu neueren theoretischen Ansätzen gegeben werden.
Wie im vergangenen Jahr ließ es sich Mitveranstalter und Schirmherr der Veranstaltungsreihe Prof. Dr. Cord Jakobeit nicht nehmen, die erste Vorlesung persönlich zu halten und eine Einführung in die diesjährige thematische Schwerpunktsetzung zu geben. Die Vorlesung beruht, wie Jakobeit ausführt, auf einem in kürze erscheinenden Sonderheft der Politischen Vierteljahresschrift (PVS) zum Thema Entwicklungstheorien, in dem weltgesellschaftliche Transformationen, entwicklungspolitische Herausforderungen und theoretische Innovationen zusammengetragen wurden. Als Mitherausgeber dieses Sonderheftes weist Jakobeit darauf hin, dass es seit 1985 das erste Sonderheft der PVS sei, das sich den entwicklungstheoretischen Entwicklungen widmet und eine gesamtdisziplinäre Übersicht über den Stand der Forschung wagt. Dem SID und ihm sei es gelungen eine Vielzahl der hochkarätigen Autoren dieses Sonderheftes für diese Ringvorlesung zu gewinnen. Im Verlauf des Sommersemesters werden sie im Zuge jeweils einer Sitzung ihren Forschungsbereich und ihren Beitrag zum PVS-Sonderheft vorstellen.
In der Einstiegsveranstaltung lag es nun an Prof. Dr. Jakobeit, den theoretischen Rahmen der Vorlesung zu bauen. In spannenden 90 Minuten umriss er vor dem gut gefüllten Hörsaal C des Universitätshauptgebäudes der Universität Hamburg die Entwicklungsschritte der entwicklungstheoretischen Diskussion der letzten 60 Jahre. Diese ambitionierte Rückschau auf entwicklungstheoretische Entwicklungen gliederte Jakobeit grob in „Entwicklungsdekaden“, da sich ca. alle 10 Jahre der Fokus der entwicklungstheoretischen Diskussion ändere:
So waren im Zuge der 50er und 60er Jahre modernisierungs- und wachstumstheoretische Ansätze bestimmend, die nach dem Vorbild der westlichen, „entwickelten“ Länder eine „nachholende Entwicklung“ in den Ländern des globalen Südens durch gezielte wachstumsfördernde und technologische Hilfen propagierten. Die „Entwicklungsstufen“, für die die demokratischen Länder des Westens lange gebraucht haben, sollten die Entwicklungsländer nun durch Hilfestellungen schnell nehmen und überspringen. Grundlage der westlichen Motivation diese Hilfestellungen zu geben, lag klar in der sich zuspitzenden Ost-West-Konfrontation. Die neuen unabhängigen Länder des globalen Südens sollten möglichst an den Westen und den demokratischen Entwicklungspfad gebunden werden. Eine Zuwendung der Länder in Richtung der UDSSR wollte man durch gezielte Angebote verhindern.
Ende der 60er Jahre verschob sich der Fokus der Debatten in Richtung einer Grundbedürfnisstrategie. Als Lehre aus dem Vietnamkrieg zog US-Verteidigungsminister (1961 bis 1968) und späterer Weltbankchef (1968 bis 1981) Robert McNamara, dass lediglich aus der Befriedigung der Grundbedürfnisse Wachstum erfolgen könne. Die zuvor rein militärisch und wirtschaftlich geprägte Entwicklungshilfe wurde um die Befriedigung essentieller Grundbedürfnisse ausgeweitet. Armutsbekämpfung, Ernährung, Arbeit und Bildung sowie Wasser- und Sanitärversorgung wurden auf die Agenda der Entwicklungspolitik und der theoretischen Diskussion gehoben.
In den 60er und 70er Jahren entwickelten sich aufgrund der ausbleibenden Erträge dieser Politik eine Reihe von kritischen Ansätzen, die sich unter dem Begriff „Dependenztheorien“ zusammenfassen lassen. Gemein ist diesen Ansätzen, dass sie die ausbleibende „nachholende Entwicklung“ in den Strukturen des Imperialismus und Kolonialismus der westlichen Industrienationen verorteten. Die weltwirtschaftlichen Strukturen und Bedingungen ließen demnach keine Aufstiegsmöglichkeiten zu. So verhinderten zum Beispiel die bestehenden Handelsstrukturen eine industrielle Diversifizierung in den Ländern des Südens. Die Abhängigkeitsverhältnisse des Südens wurden herausgearbeitet und eine autonomere Entwicklung eingefordert. Erstmals meldeten sich im Zuge dieser entwicklungstheoretischen Debatte auch Stimmen aus dem „Süden“ zu Wort. So kamen in den 70er Jahren unter dem Schlagwort „Dependencia“ Forderungen auf, den IWF und die Weltbank zu demokratisieren und das bisherige Diktum von „One Dollar – One Vote“ zu stürzen. Es wurde mehr Mitspracherecht eingefordert.
Allerdings gingen die Forderungen durch die heranziehende Schuldenkrise unter, die insbesondere durch die Zinspolitik und den Monetarismus der Reagan-Regierung befeuert wurde. Ländern des Südens war es nahezu unmöglich, an günstige Kredite zu gelangen und bestehende Kredite zu bedienen. Der IWF als „Lender of Last Resort“ erstarkte in dieser Situation. Die „Strukturanpassungspolitik“ setzte den neuen Fokus der entwicklungstheoretischen Diskussion und Praxis. Anpassungen der bestehenden wirtschaftlichen und staatlichen Strukturen wurden zur Auflage für die rettenden günstigen Kredite des IWFs und anderer Entwicklungsbanken. Entwicklungshilfen wurden an eine Fülle von Konditionen geknüpft.
Im Zuge der 90er Jahre verschob sich der Fokus der Debatte erneut. Nach dem Ende der Blockkonfrontation 1989 erkannte man die schlechte Regierungsführung vieler Länder als Problem. Die Konditionalität der Entwicklungspolitik wurde daher auf die Politik und die Verwaltung ausgeweitet. „Good Governance“ wurde zum Schlagwort dieser theoretischen Debatten.
Um die Jahrtausendwende kamen mit der Ausrichtung der Entwicklungspolitik an den Millenium Development Goals (MDGs) und der Wirksamkeitsdiskussion erneut neue Foki der entwicklungspolitischen Diskussion auf.
Seinen schnellen Ritt durch die Entwicklungsdekaden abschließend betonte Prof. Dr. Jakobeit nicht ohne eine gewisse Süffisanz, dass es den Anschein habe, dass sich der gewaltige entwicklungspolitische Apparat permanent eine neue Selbstlegitimation schaffe. Kontinuierlich würden neue Schwerpunkte gesetzt, die letztlich alle, bis auf die dependenztheoretischen/kritischen Ansätze, als Fortschreibungen der modernisierungs- und wachstumstheoretischen Diskussionen betrachtet werden könnten. So folgen sie der Grundannahme, dass eine nachhaltige Entwicklung markwirtschaftlicher Anpassungen (Neoliberalismus), einer steigenden Investitionsquote durch Finanztransfers und schließlich steigender ausländischer Direktinvestitionen bedürfe. Jakobeit bezeichnet dies als das Skript, das all diesen Ansätzen zugrunde liege und das auch weitestgehend die bestehende entwicklungspolitische Praxis bestimmt. Spätestens hier erschließt sich die Frage, die der Vorlesung ihren Namen verleiht: „Entwicklungstheorien reloaded?“
Alternativ zu diesen praktischen Modellen der Entwicklungstheorie, die auch als politikberatend klassifiziert werden können, habe es laut Jakobeit immer auch kritische Theorieansätze gegeben. Diese hinterfragen die bestehende Praxis und haben sich zum Ziel gesetzt Bewußtseinsräume zu öffnen – angefangen mit den dependenztheoretischen, imperialismuskritischen und marxistischen Ansätzen der 70er und 80er Jahre. Zum Problem für diese Theoriezweige wurden zunächst die Erfolgsgeschichten einzelner Entwicklungsländer, wie zum Beispiel die der asiatischen Tigerstaaten oder der BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika), die sich nicht in das Denkgerüst der kritischen Ansätze fügen wollten und eine rasante „nachholende Entwicklung“ vollzogen. Heute lassen sich jedoch viele dieser Theorien auf die schnell wachsenden großen Flächenstaaten übertragen. So lässt sich insbesondere in den BRICS-Staaten eine Ausbeutung des Hinterlandes beobachten und eine ungleiche Entwicklung konstatieren.
Neuere kritische Ansätze bilden z. B. die Post-Development-Theory und die Postkolonialismustheorien. Erstere betonen, dass der westliche Entwicklungspfad nicht auf alle Länder übertragen werden dürfe, da es ungeahnte ökologische und soziale Folgen nach sich ziehen würde. Wenn diese Staaten dieselbe wirtschaftliche Entwicklung vollzögen, inklusive dem damit verbundenen Ressourcenbedarf und den entstehenden Emissionen, würden alle formulierten Klimaziele in unerreichbare Ferne ziehen. Die globale Nichtreproduzierbarkeit des westlichen Entwicklungsmodells hat dadurch Überlegungen zu alternativen Entwicklungspfaden losgetreten. So werden insbesondere Freiräume und lokale Autonomien für eine eigene Entwicklung gefordert, was eine Ausweitung oder gänzliche Ablehnung des bestehenden Entwicklungsbegriffs voraussetzt. Die Ansätze des Postkolonialismus betonen eine Kontinuität des kolonialen Denkens und eine engstirnige Fixierung auf westliche Entwicklungspfade. Falsche Bilder, Klischees, Engführungen und Denkmuster bestimmen das entwicklungspolitische Denken und Handeln. Mit methodischen Mitteln versuchen Anhänger postkolonialistischer Theorien diese Wahrnehmungen, Bilder und Diskurse aufzudecken, um sie kritisch zu hinterfragen. Sie verschieben damit den Gegenstandsbereich der empirischen Forschung.
Jakobeit betont, dass diese älteren und neueren kritischen Ansätze sich nicht als politikberatende Ansätze verstehen lassen. Sie beschränken sich häufig auf die Analyse und daraus entstehende Kritik an den bestehenden Strukturen, Prozessen und Denkweisen, was ihre Bedeutung jedoch nicht mindert. Obwohl diese Ansätze nur zu einem gewissen Grad Anklang in der entwicklungspolitischen Praxis finden, sind sie insbesondere in Wissenschaftskreisen anerkannt. So verortet Jakobeit neben sich selbst auch viele der ihm folgenden Gastredner in der Tradition kritischer Theorieforschung. Gefordert wird eine kritisch reflektierte Entwicklungszusammenarbeit.
Wenn nun also im Verlauf des Sommersemesters Rednerinnen und Redner aus ganz Deutschland und der Schweiz nach Hamburg reisen, um ihre Arbeiten vorzustellen, wird aus unterschiedlicher Perspektive ein kritischer Blick auf die bestehenden Konzepte und Strategien der entwicklungspolitischen Praxis geworfen. So können sich alle Hörer und Hörerinnen der Vorlesung beispielsweise auf Vorträge zu weltgesellschaftlichen Transformationen freuen, die die bestehenden theoretischen und praktischen Ansätze in Frage stellen. Insbesondere der Aufstieg der BRICS-Staaten und die damit verbundene Verschiebung in Richtung einer polyzentrischen Weltordnung, die nicht mehr nur durch den Westen dominiert wird, fordert die bestehende entwicklungspolitische Praxis heraus. An anderer Stelle sollen neue entwicklungspolitische Herausforderungen thematisiert werden, wie zum Beispiel die Formulierung von Post-Millenium-Development-Goals, nach dem Auslaufen der alten Ziele im Jahr 2015, oder die Rolle von Nichtregierungsorganisationen und neuen Gebern in der entwicklungspolitischen Landschaft. Neue theoretische Innovationen werden vorgestellt, wie zum Beispiel Ansätze, die eine „verwobene Moderne“ postulieren, die eine isolierte, ahistorische Betrachtung von Ländern und auch Themen unmöglich macht. Auch postkoloniale und Post-Development-Ansätze werden im Semesterverlauf ihren Raum erhalten und den bestehenden Entwicklungsbegriff kritisch hinterfragen.
Das Programm der öffentlichen Ringvorlesung verspricht spannende Einblicke in die neueren entwicklungstheoretischen Debatten und eine kritische Auseinandersetzung mit dem entwicklungspolitisch vorherrschenden Theoriegebilden. Dabei werden die Hörer und Hörerinnen immer wieder interaktiv eingebunden, indem die Redner Fragen an das Auditorium richten. Mit Abstimmungsgeräten (Clickern) können die Zuhörer und Zuhörerinnen auf Fragen antworten. Herr Prof. Dr. Jakobeit nutzte dieses Instrument jedenfalls gekonnt um seine Präsentation aufzulockern und die kritischen Stellen der aktuellen Debatten zu untermauern. So stellte er Fragen wie „Welche Theorie hat die größte Auswirkung auf die entwicklungspolitische Praxis?“ oder „Wie ordnen Sie die Auswirkungen von Entwicklungspolitik auf die Lebensverhältnisse von Menschen in Entwicklungsländern ein?“. Man kann gespannt sein, welche Fragen noch folgen werden und welche Diskussionen daraus entstehen. Der Autor freut sich jedenfalls auf viele spannende Sitzungen und Diskussionen.